Lauftrainer & Ernährungsberater

 Die Wahl der Qual einen Ultramarathon zu laufen

Von Dominik Neubig

 

Verrückt sein liegt wirklich nur im Auge des Betrachters. Normal und Abnormal ebenfalls. Aber was ist eigentlich Normalität, Normalsein oder der Norm entsprechend? In der Fachliteratur finden wir Äußerungen wie:

„Normalität ein erwünschtes, akzeptables, gesundes, förderungswürdiges Verhalten im Gegensatz zu unerwünschtem, Behandlungsbedürftigem, gestörtem, abweichendem Verhalten.“

 Bei knapp 7,7 Milliarden Menschen aufgeteilt auf 194 Staaten und einer Vielzahl der verschiedensten Gesellschaftsformen und kulturellen Hintergründen wird die Normalität eine immer größere Bandbreite an Definitionsmöglichkeiten offen lassen.

Vor zweieinhalb Jahren noch, wäre es für mich absolut verrückt gewesen, mich allein nur mit dem Gedanken zu beschäftigen bei einem 100 Kilometer Ultramarathon teilzunehmen geschweige denn Ende an solch einem Lauf an der Startlinie zu stehen… Und doch sitze ich nun hier an meinem Schreibtisch und haue in die Tasten um über die Teilnahme an einem Ultramarathon zu schreiben!

Der 100 Kilometer Straßenlauf von Biel.

Ich habe im Vorfeld natürlich die ein- oder andere Laufgeschichte gelesen. Bei einer dieser Laufgeschichten blieb mir eine Information des Redakteurs im Kopf hängen…. „Die langen Läufe waren bei vielen Läufern in der Vorbereitung nach eigenen Aussagen zu wenig!“ So auch bei mir! Mal abgesehen davon, dass ich im September letzten Jahres meinen ersten Marathon lief und in der Vorbereitung für Biel der längste Lauf ebenfalls „nur“ ein Marathon war. Dabei wären für eine optimale Vorbereitung lt. einiger Trainingspläne 3 – 5 Läufe jenseits der Marathondistanz von großem Vorteil gewesen. Dank einer Grippe lag ich am Anfang der Vorbereitung eineinhalb Wochen flach. Zweieinhalb Wochen vor Biel hatte ich einen dicken Fuß und ich gab bis zuletzt die Hoffnung nicht auf vielleicht doch noch starten zu können.

Mein Gefühl sagte mir einfach:

 „Ich bereit bin, dieser Lauf ist wichtig, wichtig für mich, mein inneres ich und mein weiteres Leben.“

 Genau an diesem Punkt bestätigte sich meiner Meinung nach die Aussage, dass Verrückt sein nur im Auge des Betrachters liegt! Ich war hin und hergerissen und wusste nicht was ich machen sollte. Laufen? Nichtlaufen? Einfach nur mitfahren und als Fahrradbegleitung für meinen Freund Edwin (Jahrgang 62, erfolgreicher Biel Finisher 2017 mit einer Zielzeit von 11:40:36,8) in die Pedale treten oder Ihn gar zu Fuß begleiten und vielleicht nur den kleinen Ultra von 56 Kilometer laufen? Nur 56 Kilometer… Meine Psyche war also schon so weit 56 Kilometer mit einem „nur“ zu definieren. Meine Arbeitskolleginnen und selbst Edwin, rieten mir in erster Distanz von einem Start ab. Ich rief einen Bekannten an. Er nahm unter anderem Erfolgreich am Gobi March Mongolia und am Sahara Race Namibia - beide über 250 Kilometer – teil. Seine Antwort war relativ einfach!

„Dominik, ich will dich nicht dazu animieren verletzt bei einem Lauf zu starten. Aber, wenn du danach genug Zeit hast dich auszukurieren und es keine Folgeschäden mit sich zieht würde ich laufen. Schmerzen wirst du sowieso haben! Schick mir Bilder vom Lauf und viel Spaß!“

Danach hatte ich noch ein langes Gespräch mit meiner Frau! Solange ich mit dem Schmerz klar komme und ich die Gefahr für bleibende Schäden fast gänzlich ausschließen könne warum nicht, meinte meine Frau. Und somit war es für mich Entschieden auf alle Fälle mitzufahren.

„Schmerz ist nur Schwäche die den Körper verlässt"

Und ich war mir sicher, dass es nur mein Sesambeinchen im Vorderfuß ist welches mir Schmerzen bereitet. Vor 11 Jahren konnte ich damit auch Handball spielen also warum jetzt nicht damit an den Start?

Einen Tag vor Biel – meine Sachen hatte ich schon gepackt und ich getapet -  bekam ich dank eines Freundes einen „VIP-Orthopäden-Termin.“

Wie sich herausstellte bestätigte sich mein Gefühl und ich hatte mir zum zweiten Mal das Sesambeinchen im Vorderfuß gebrochen. Aus orthopädischer Sicht kann es nicht schlimmer werden war die Diagnose! Auch Folgeschäden konnte er ausschließen! Mal abgesehen davon dass es aus Sicht meines Orthopäden völlig verrückt sei an einem 100 Kilometerlauf teilzunehmen, stellt er sich nun zusätzlich noch die Frage, wie ich es mit diesem Fuß und den damit verbundenen Schmerzen packen will. Bei 100 Kilometer werden noch so einige Schmerzen auf mich zukommen dachte ich mir.

 

„Warum kommst du eigentlich zu mir und lässt dich untersuchen wenn du am Ende doch läufst?“

 

Die Antwort auf die Frage meines Orthopäden war einfach:

„Es hätte ja auch was schlimmes sein können!“

Sechs Stunden später waren wir bereits in Biel.

Als wir unsere Zelte aufgeschlagen hatten, tranken wir erst einmal ein kühles Bier und aßen zu Abend. Genau ab diesem Zeitpunkt begann es bei mir im Kopf herum zu spuken…

Meine Zuversicht „bereit“ zu sein bröckelte sichtbar. Man konnte mir den Respekt vor der Strecke fast schon aus den Augen ablesen, zusätzlich hing mir der Arsch auf Grundeis und meine Psyche bestritt einen inneren Kampf mit sich selbst. David gegen Goliath… In mir nahm es fast schon biblische Ausmaße an. Sollte am Ende David doch gegen Goliath verlieren? Am Morgen vor dem Start wurde ich bereits um 6:00 Uhr wach und war fit. An Schlaf war nicht mehr zu denken und so las ich noch ein paar Laufberichte über Ultramarathons um mich etwas zu beruhigen. Als mein Laufkollege wach wurde und wir gefrühstückt hatten, machten wir uns auf den Weg mit den Fahrrädern in die Innenstadt zum Start/Ziel Bereich und wollten uns anmelden.

Wer lesen kann ist ganz klar im Vorteil! Eine Nachmeldung war erst ab 17 Uhr möglich und so verbrachten wir den Vormittag in Biel und komplettierten unser Laufoutfit. Es blieb auch genug Zeit um wenigsten schon einmal Zielluft zu wittern.

Als wir wieder am Campingplatz ankamen begann auch schon die Vorbereitung für den Lauf. Hatte ich wirklich an alles gedacht?

Ich packte meinen Rucksack für die Gepäckabgabe und lernte noch ein Läuferpaar auf dem Campingplatz kennen. Mona und Marek. Wir unterhielten uns über die Vorbereitung und ich musste wiederum feststellen, dass wohl etwas mehr Vorbereitung absolut von Vorteil gewesen wäre. Dennoch sprach mir Marek Mut zu gab mir den Tipp:

„Chill noch ein bisschen. Leg dich hin und entspann!“

Da ich das Mittagessen nicht vertrug, es mir in Magen und Darm um ging und ich mehrmals den Weg zur Toilette antritt war an schlafen nicht zu denken. Oder war es am Ende doch nur die Nervosität? Ein Powernapping von 20 Minuten war alles was mein Körper wollte.

Um 17 Uhr fuhren wir pünktlich zur Anmeldung. Da war er wieder, der innere Kampf mit mir selbst. David gegen Goliath. Aber wer bin ich und vor allem was tue ich nun? 56 Kilometer oder 100 Kilometer?

Als ich mein Kreuz automatisch beim 100 Kilometer Kästchen setzte hatte ich zumindest einen Kampf gewonnen. Wenn auch nur die Entscheidung darüber für welche Entscheidung ich mich entschieden hatte. Die Entscheidungsfindung war genauso verwirrend wie einiger meiner Zeilen hier! Dennoch ging es gutgelaunt zum Start.

 Ich hatte mich nun dazu entschlossen diesen Lauf einfach zu genießen. Ich hatte meiner Frau versprochen sollte ich Laufen werde ich auf mich aufpassen und aus dem Rennen gehen sollte es mir schlecht gehen und ich am Ende meiner Kräfte sein. Für den Moment jedoch war ich auf Genuss eingestellt! Ich war hier in Biel und wollte tun wofür ich die letzten Wochen mit Unterbrechungen hingearbeitet habe. Die Momente die kommen, die Atmosphäre und das ganze Drumherum aufzusaugen wie ein Schwamm der nach jedem tropfen Feuchtigkeit lechzt war mein Ziel.

 Kurz vor dem Start kramte ich mein Minihandy aus meinem Laufgürtel um noch kurz mit meiner Frau Christiane zu telefonieren und ihr zu sagen dass es mir gut geht und ich sie liebe.

 

Der Lauf

Jeder Schritt ist eine Qual. Ich komme kaum noch voran und die Hitze der Sonne prasselt auf mich herab. Hatte ich bereits jemals zuvor solche Schmerzen? Nein! Mein Blick wandert nach oben und ein weiteres von bereits vielen Stoßgebeten nahm die Reise auf. Jedem Schritt folgt ein weiterer stechender Schmerz. Es folgt ein weiterer Blick nach oben mit dem Gedanken:

„Warum hast du mich verlassen!“

 Ich lächle aufgrund meines Gedanken und erinnere mich an den Spruch welcher meinen Rücken ziert.

„Schmerz ist nur Schwäche die den Körper verlässt!“

 Ich weiche zur Seite um einem herannahenden Läufer sowie seiner weiblichen Fahrradbegleitung Platz zu machen und nutze den Moment mich am Geländer abzustützen.

„Möchtest du ein Stück Schokolade?“, fragte mich das Mädel auf dem Fahrrad. Ich lehnte das Angebot höflich ab. Meine Laktoseintoleranz soll mir jetzt nicht völlig den Rest geben!

Wie der Bach, Fluss, die Pfütze oder wie auch immer neben mir heißt habe ich längst vergessen. Vielleicht wusste ich es aber auch noch nie. Für mich zählt einzig und allein der Moment! Plötzlich klingelt mein Handy.

„Ja?“, stöhnte ich mit schmerzverzehrter weinerlicher Stimme ins Telefon.

„Wie schaut´s aus und wie weit bist du?“, klang Edwins Stimme mir aus dem Handy entgegen

„Nicht gut! Mir geht’s beschissen! Ich hab noch ca. 12 Kilometer… Kann kaum auftreten… ziehe meinen Fuss eigentlich nur hinter mir her… aber ich mach weiter…“

„Das hört sich nicht gut an! Das sieht nicht gut aus!“, drang es aus dem Handy

„Ich melde mich! Ich mach weiter! Bis später"

88 Kilometer hatte ich bereits geschafft. Über 45 Kilometer mehr als mein bisher weitester Lauf. Und nun war jeder Schritt die absolute Qual… Am Bach entlang führt eine kleine Gasse leicht bergab… Der Blick starr und ungläubig nach unten gerichtet… Wie soll ich das bitte schaffen? Ich konzentriere mich und versuche den Schmerz weg zu atmen. Das Geländer ist in griffweite. Ich Greife zu, humpele Schritt für Schritt auf dem Geländer abgestützt nach unten. Das rechte Knie, der rechte Oberschenkel schmerzt bei jedem Schritt noch mehr...

Dabei fing alles gar nicht so schlecht an. Kurz nach dem Startschuss lief ich noch zum Spaß vor Edwin her. Den ersten Kilometer liefen wir noch zusammen und unterhielten uns. Mir wurde recht schnell bewusst dieses Tempo niemals aufrecht halten zu können – immerhin peilte er eine Zielzeit von 10:40:00 an - weshalb ich mich dazu entschloss von Edwin zu verabschieden. Ich rief Ihm zu, „Wir sehen uns im Ziel!“ „Schau das vor Mittag im Ziel bist, dann können wir zusammen Mittagessen!“, rief er zurück und zog davon. Pünktlich zum Mittag im Ziel würde bedeuten ich schaffe es in knapp unter 14 Stunden. Mein Trainingsplan war auf knapp unter 13 Stunden ausgelegt und ich wollte versuchen solange wie möglich dran zu bleiben... Mir war bewusst das 13 – 14 Stunden verdammt hart werden, vor allem aber weil ich meinen Trainingsplan nicht einhalten konnte… Was mit meinem Körper oder mir jenseits der 50 Kilometermarke passieren würde konnte ich bis dahin noch nicht abschätzen. Also versuchte ich langsamer zu werden und traf gleich in Kilometer zwei auf Jérôme. Er lief ein konstantes Tempo und somit gesellte ich mich zu ihm und sprach Ihn an. Jérôme war ein 26 jähriger Franzose, sprach allerdings nur gebrochen Deutsch dafür jedoch gut Englisch. Somit konnte ich mit meinem gebrochenen Englisch immerhin antworten. Sein Ziel war es den Lauf zu finishen da er es im Jahr zuvor leider nicht geschafft hat. Er peilte eine Zeit von knapp unter 13 Stunden an. (Wie ich später herausgefunden habe hat er es auch erfolgreich gefinisht) Er erzählte mir, dass er eine Zeitlang in Berlin wohnte und daher ein wenig Deutsch spricht. Wir beschlossen uns ein wenig zu begleiten. Bei Kilometer 8 hielt ich kurz an einem Lagerfeuer um einer illustren Runde einen Moment beizuwohnen. Eine gutaufgelegte und scheinbar alkoholisierte junge Frau hielt mir ihr Glas hin welches ich dankend entgegennahm und mit einem Schluck leerte. Sekt oder Wein? Egal, es schmeckt und ein wenig Spaß darf sein.

Jérôme hatte voll und ganz sein Tempo gefunden und ich merkte, er war voll und ganz im Lauf angekommen. Bei mir holperte es ein wenig… Steine in den Schuhen und mein Silikonüberzug am Mittelzeh meines rechten Fußes verschob sich merklich. Immerhin bekam ich die Steine aus meinen Schuhen und wir konnten zusammen weiterlaufen. Nach 14 Kilometern und ca. 1 Stunde 45 Minuten verabschiedete sich Jérôme weil er etwas schneller laufen wollte und so zog auch er von dannen. Ich beschloss kurz auf ein langsames Walkingtempo überzugehen und meiner Frau zu schreiben dass es mir gut geht. Ich aß kurz einen Riegel und lief weiter. Mir war jetzt schon bewusst, dass ich 13 Stunden nur schwer schaffen werde und versuchte mein Tempo zu finden. Kopfhörer rein, Musik an! Sobald ein paar Zuschauer in Sicht kamen schaltete ich die Musik aus um die Anfeuerungsrufe – wie ein Schwamm – in mich aufzusaugen. Es war ein herrliches Gefühl. An der Ziellinie zum Halbmarathon wurde mein Name ausgerufen und die Motivation blieb weiterhin im oberen Bereich. Mit meinem Einhorn auf der Brust flog ich quasi an der Menge vorbei….

Bis Kilometer 22 versuchte ich meinen Silikonüberzug zu ignorieren da ich wusste es wird eine totale Fummelarbeit die Laufstrümpfe aus- und wieder anzuziehen. Bei Kilometer 23 saß ich auf einer Stufe am Straßenrand und die Fummelei begann!

Als ich wieder loslief grinste mir auf einmal ein neben mir her joggender älterer Herr namens Franz fröhlich ins Gesicht und wir kamen recht schnell ins Gespräch. Neben Ihm lief seine Frau Bianca. Beide lieben Ultramarathons. Franz erzählte mir er wäre sehr dankbar hier laufen können da er vor einigen Jahren ein Darmdurchbruch erlitt und es ziemlich schlimm um Ihn stand. Er sich aber aufgerappelt hat und nun wieder fleißig am Trainieren sei und Biel eine Trainingseinheit für einen angepeilten 24 Stunden Lauf bildet. Respekt! Und das mit 66 Jahren! Für mich war ziemlich schnell klar, Franz und Bianca haben was zu erzählen und so schloss ich mich ihnen an.

Da liefen wir also zusammen durch die Nacht! Sie erzählten mir von Marathons und Ultramarathons aus ganz Europa und die Zeit verflog einfach. Wir unterhielten uns über Trainingsmethoden und Sportlernahrung. Nach 35 KM machte sich erstmals mein Knie bemerkbar. Dank der Laufstrategie von Bianca und Franz lief es jedoch besser als gedacht.

Wir liefen 25 Minuten und gingen anschließend 5 Minuten - bis Kilometer 56. Nach 38 Kilometer lag ich knapp eine viertel Stunde hinter meiner Zielpace. Franz erklärte mir, dass die Zeit absolut nicht wichtig sei und sich für mich einiges ändern wird! Schon bei Kilometer 56 kann ich stolz auf mich sein und sollte ich es tatsächlich schaffen diesen Lauf erfolgreich zu finishen, wird sich für mich die Sicht auf das Laufen komplett verändern! Immerhin wäre ich dann ein 100 Kilometer Läufer. Ab Kilometer 45 fing an sich mein Psyche und das Denken rund um das Laufen zu verändern…

Ich war nun schon 45 km gelaufen. Selbst wenn ich jetzt ausscheide bin ich schon einen kleinen Ultramarathon gelaufen. Ich war stolz. Bei Kilometer 50 lief ich ja nur noch zurück… bei Kilometer 55 nahm mich mein Handy raus und schrieb meiner Frau das ich kurz vor dem Ziel bin den kleinen Ultramarathon zu beenden. Ich schrieb Ihr dass ich total schmerzen im Knie habe aber es mir gut geht und ich weiter machen werden.

Sie antwortete mir kurz darauf dass ich jetzt schon Ihr Held bin und Sie stolz auf mich und meine Leistung sei egal wie weit ich jetzt noch kommen würde. Ich hatte tränen vor Freude in den Augen. Die Ziellinie kam in Sicht. Links das Ziel der 56 KM und rechts der Pfeil zum weiter machen… Ich blieb stehen und dachte kurz nach. 44 Kilometer Schmerz oder doch aufhören. Nachdem ich meine Startnummer am Rücken hatte konnten die Helfer nicht sehen für welchen Lauf ich gemeldet war… Nachdem ich grinste sagte einer der Helfer: „Du willst die 100 machen. Stimmt´s?“

Ich grinste und sagte: „Ach fuck, ich mach weiter!“

Er wäre schon verlockend gewesen hier aufzuhören. Essen, Massagen und ein Shuttleservice zurück an den Start. Nein! Ich wollte weitermachen! Also ging ich zu meinem Gepäck und füllte meinen Gel- und Riegelvorrat auf. Nach kurzer Überlegung beschloss ich mich nicht hinzusetzen da ich Angst hatte nicht mehr hoch zukommen. Edwin hatte mir erzählt einem Freund von Ihm wäre das bei Kilometer 70 passiert. Ich verabschiedete mich von Bianca und Franz da die beiden hier noch länger verweilten und lief weiter.

Ich traf auf Marco, 58 aus Berlin. Auch er hatte schmerzen. Er war etwas unzufrieden da er in Biel vor einigen Jahren auch schon mal in unter 11 Stunden 30 Minuten ins Ziel kam. Wir hatten relativ schnell einen guten Draht zueinander und beschlossen uns eine Zeitlang zu begleiten. Mein Handy klingelte und ich war verwirrt als ich Edwin´s Nummer erkannte. 8:40:00 zeigte mein Uhr an. Er hat sein Handy doch gar nicht mitgenommen.

„Edwin? Wo bist du?“, rief ich ins Handy

„Ich bin im Ziel!“ antwortete er.

Das kann nicht sein. Da muss doch was passiert sein.

„Du hast aufgegeben oder? Was ist passiert?“, fragte ich.

„Ich bin bei 56 KM raus und mit dem Shuttle zurück. Ich konnte nicht mehr. Meine Hüfte tat weh und meine Socken waren nass! Wo bist du?“, fragte er.

„WELCOME IN MY WORLD!“ rief ich ins Telefon. „Ich habe bereits seit Kilometer 30 Schmerzen und laufe jetzt mit Marco. Wir sind ca. bei Kilometer 58.“

„Jetzt bist du allein und kannst es schaffen. Gib alles! Du schaffst das!“, rief Edwin ins Handy.

Es sollte nicht das letzte Telefonat gewesen sein. Er rief immer wieder mal an um auf dem Laufenden zu bleiben und um mich auch zu motivieren. Marco und ich liefen weiter. Wir motivierten uns aber vor allem motivierte er mich! Bei Kilometer 60 rief er mir zu:

„Überleg mal, jetzt haben wir nicht mal mehr einen Marathon!“

Stimmt! Wir haben nicht mal mehr einen Marathon dachte ich mir. Mir fiel sofort auf wie verrückt dieser Gedanke eigentlich ist! Marco redete immer wieder auf mich ein wie stolz ich jetzt schon sein kann so weit gekommen zu sein. Und dass ich jetzt schon weiter bin wie mein Laufkollege. Ultramarathon laufen verbindet und man wächst zusammen auch wenn man die Person nicht kennt! Aber dennoch hat man das Gefühl den anderen schon ewig zu kennen! Wir kämpften uns von Verpflegungsstand zu Verpflegungstand! Wir gingen und liefen abwechselnd und versuchten so die Schmerzen im Zaum zu halten. Marco sprach mir immer wieder Mut zu. „Du schaust noch wesentlich frischer aus als die anderen hier!“ Wir nahmen richtig Fahrt auf, überholten einige Läufer und liefen Kilometer um Kilometer. Bei Kilometer 73 kamen wir an einem Verpflegungsstand an und ich entdeckte einen älteren Herren mit blutigem Gesicht und badagiertem Knie und fragte Ihn was passiert sei…

„Du wirst es mir nicht glauben. Auf einmal sprang mir eine Verkehrsinsel in den Weg ich viel auf die Fresse! Ich musste ne halbe Stunden warten bis der Arzt kam bevor ich weiterlaufen konnte. Und das war bei Kilometer 20 oder so.“

Ultramarathonläufer sind harte Hunde aber dennoch sehr einfühlsam wie ich über den Lauf hinweg feststellen durfte.

Immer wieder bekam ich Tränen in die Augen… Nicht wegen des Schmerzes sondern weil ich stolz auf mich war und mich bereits ins Ziel laufen sah. Doch die Schmerzen wurden immer schlimmer und ich musste Powerwalken. Marco war begeistert wie schnell ich das konnte den schließlich joggte er neben mir her und wir hielten das selbe Tempo.

Marco erzählte mir, dass er sich auch schon an dem ein oder anderen 100 Meilenlauf versucht hat aber es bisher leider noch nicht geschafft hat. Aber wir würden heute die 100 KM schaffen! Da war er sich sicher. Knapp unter 15 Stunden wäre realistisch meinte er. Bei Kilometer 80 überholten wir einen Barfussläufer! Respekt vor seiner Leistung. Jetzt merkte ich, dass Marco völlig im Flow war und ich lief hinter ihm her. Er setzte sich etwas ab und bei Kilometer 85 war er kaum noch zu sehen. Er bemerkte es nicht. Ich wollte auch nichts sagen weil er ein beachtliches Tempo lief und es ihm wohl gut damit ging. Die Schmerzen wurden schlimmer und ich langsamer. Ein Läufer überholte mich und riet mir jetzt nichts mehr zu riskieren. Immerhin bin ich so weit gekommen und eine Stunde mehr oder weniger wäre jetzt auch nicht mehr wichtig. Ein anderer Läufer klopfte mir auf die Schulter und erinnerte mich an meinen Spruch auf dem Rücken…

Schmerzen! Einfach nur Schmerzen! Jeder Schritt eine Qual. Hier lief ich… nein hier humpelte ich nun vor mich hin. Aufgeben? Kommt nicht in Frage! Mir persönlich geht es ja gut. Nur der Schmerz in meinem Knie und Oberschenkel ist die totale Hölle.

Irgendwie muss es gehen! Dann eben ganz langsam einen Schritt vor den anderen setzten. Ein Kilometer ist ein Kilometer egal wie schnell man Ihn läuft.

Ich überhole einen Läufer bzw. ebenfalls einen gebeutelten Teilnehmer dieses Ultramarathons bei Kilometer 89! Frank Anfang 40 aus dem Stuttgarter Raum. Seine Frau lief die 56 Kilometer. Er ist ebenfalls erst einen Marathon gelaufen und so humpeln wir nun nebeneinander her. Schritt um Schritt.

„Hör endlich auf alle 10 Sekunden auf deine Uhr zu schauen! Da wird sich nicht viel bewegen bei unserem Tempo!“, sagte Frank

Recht hat er. Ich zog mein Kompressionsshirt aus und wir gingen weiter. Ich sehe vor mir zwei weitere Läufer. Der eine stütz den anderen.

„Kann ich euch helfen?“, fragte ich

„Nein alles gut! Das schaffen wir jetzt auch noch!“, grinste der Jüngere mit verheulten Augen mir entgegen.

Nur noch 8 Kilometer. Schritt für Schritt dem Ziel entgegen. Noch 7, noch 6, ich merke wie die Euphorie anklopft! Adrenalin macht sich bemerkbar und die Schmerzen werden weniger.

„Frank geht’s bei dir wieder? Lockeres Traben?“, fragte ich.

„Lauf zu! Verschwinde!“, sagte er und lächelte wenigstens.

Ich lief los. Autsch! Da ist er wieder, der Schmerz aber es geht. Weiter immer weiter… nur noch 5 Kilometer. Ich heule vor Freude, Stolz und Schmerz. Grinse über beide Ohren. Jetzt nur nicht hinfallen, sonst ist es am Ende doch noch vorbei. Nur noch 4 Kilometer.

Ich überhole einen Läufer mit Fahrradbegleitung und spreche ihm Mut zu. Nur noch drei Kilometer.

SMS an Endwin: „Ich bin gleich da!“

Eine hübsche Frau hüpft um die Ecke und möchte ein Foto von mir! Kein Problem und weiter geht’s!

SMS an meine Frau: „Schatz, ich hab nur noch 2,5 Kilometer dann hab ich es geschafft!“

Ihre Antwort: „Du verrückter! Ich bin Megastolz auf dich!“

Da ist das Schild: 99 Kilometer! Ich fliege nun praktisch dem Ziel entgegen. Überhole nochmals einige Läufer. Einen lächle ich mit den Worten - „Servus, I bims! Da bin ich wieder!“ – an und sprang wie eine junge Gazelle an Ihm vorbei. Jetzt fällt alles von mir ab und ich bin einfach nur glücklich! Scheiss auf den Schmerz. Ich hab´s tatsächlich geschafft!

100 Kilometer in 15 Stunden 42 Minuten und 22 Sekunden.

Edwin umarmt mich und sagt nur: „Du bist ein harter Hund! Wie hast du das noch geschafft? Glückwunsch!“

Ich weine vor Freude und setzte mich hin! Ging besser als Gedacht. Also das mit dem Hinsetzen! Edwin reicht mir mein Siegerbier und ich sehe einen Läufer der ins Ziel läuft mit einem Lächeln im Gesicht auf mich zu kommen!

„Junge, um dich habe ich mir die meisten Sorgen gemacht! Als ich dich vorher humpeln sah, dachte ich mir, du packst es nicht mehr!“, sagte er mit einem Lächeln und wir fielen uns in die Arme!

Franz hatte Recht! Was bei diesem Lauf mit mir und meiner Psyche passiert ist kann ich selbst jetzt noch nicht richtig deuten. Es hat sich alles irgendwie gedreht… Meine Wahrnehmung hat sich komplett verändert. Meine Wahrnehmung gegenüber Entfernungen… Meine Wahrnehmung gegenüber Schmerz… Es fühlt sich nun leichter an…

Der nächste Ultra kommt hoffentlich schon bald…

 

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